(aus dem gleichnamigen Buchbeitrag von Maximilian Rieländer im Buch
"Gesundheitsförderung als zukunftsorientiertes Berufsfeld", Bonn: DPV 1995)
Im Gesundheitswesen herrscht faktisch ein krankheitsorientiertes Verständnis von Gesundheit als ‘Freisein von Krankheit’: Nahezu alle rechtlichen und finanziellen Regelungen gehen von diesem Verständnis aus; in der Medizin und Klinischen Psychologie wird Gesundheit überwiegend als Freisein von Krankheit bzw. von Störungen betrachtet und behandelt; auch die relativ fortschrittlichen gesundheitspolitischen Ansätzen der Prävention und Psychotherapie beruhen auf dem krankheitsorientierten Gesundheitsverständnis.
Die Grenzen der derzeitigen Konzeption des Gesundheitswesens sind gesundheitspolitisch erkannt:
- die mangelnde Effizienz bei der Bekämpfung chronischer Erkrankungen,
- der Anstieg psychischer und psychosomatischer Erkrankungen,
- die steigende Kostenbelastung der Sozialversicherung.
Daher haben Prävention und Gesundheitsförderung in der nationalen Gesundheitspolitik in den letzten Jahren eine steigende Bedeutung bekommen.
Das Bundesministerium für Gesundheit befürwortet in der Informationsschrift „Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge“ deutlich die Gesundheitsförderung:
„In ihrer Antwort vom 22. Mai 1985 auf die Große Anfrage zur Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und zur Qualität der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik bekennt sich die Bundesregierung grundsätzlich zu den Zielen der ‘Gesundheit für alle’ - Strategie der WHO. Für die Bundesregierung geht es darum, im Rahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und der gegebenen Finanzierungsmöglichkeiten für alle Menschen den bestmöglichen, erreichbaren Gesundheitszustand anzustreben. In diesem Rahmen sieht die Bundesregierung die WHO-Strategie als einen ‘hochwertigen Richtungsweiser’ an. ... Der Hauptakzent der ‘Gesundheit für alle’-Strategie der WHO liegt auf der Schwerpunktverlagerung von der kurativen zur präventiven Medizin und Gesundheitsförderung. Strategischer Ausgangspunkt der Gesundheitsförderung ist die Frage: wo wird Gesundheit hergestellt? Gesundheit, so der ehemalige Generaldirektor der WHO, Dr. Haldan Mahler, ‘wird von den Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt, dort wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, daß man sich um sich selbst und für andere sorgt, daß man in der Lage ist, selber Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben, sowie dadurch, daß die Gesellschaft in der man lebt Bedingungen herstellt, die ihren Bürgerinnen und Bürgern Gesundheit ermöglichen’.“ (S. 103f.)
Bundesgesundheitsminister Seehofer auf der Konferenz „Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge“ (1993):
„Es ist in meinen Augen aber auch der gesundheitspolitische Schwenk der letzten Jahre, vielleicht des letzten Jahrzehnts, von großer, mindestens gleichrangiger Bedeutung, nämlich der zur Betonung der Gesundheit und ihrer Förderung. Ein neuer Akzent in der Gesundheitspolitik, der schließlich auch im berühmten Sozialgesetzbuch V, Paragraph 20, seinen Niederschlag gefunden hat. Gesundheit soll für den Bürger mehr sein als nicht krank zu sein.“
Infolge des Gesundheits-Reformgesetzes gelten seit 1989 gesetzliche Regelungen im SGB V, die für die gesetzliche Krankenversicherung „Leistungen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten“ umschreiben.
Im Oktober 1991 verabschiedete die 64. Gesundheitsministerkonferenz eine Entschließung zu „Möglichkeiten zur Gesundheitsvorsorge, Krankheitsfrüherkennung und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland“, u.a. mit Aspekten der WHO-Strategie „Gesundheit für alle“.
Seit 1993 haben sich gesundheitspolitische Bewegungen zugunsten der Gesundheitsförderung und Prävention
durch Aktivitäten mehrerer nationaler Gesundheitsorganisationen deutlich verstärkt,
wobei die nachfolgend skizzierten Trends deutlich werden.
Eine aktive Diskussion wird um das Verhältnis von ‘Prävention’ und ‘Gesundheitsförderung’ unter Beteiligung von Bundesministerien geführt. Die Bundestags-Anfrage der SPD-Fraktion und die Antwort der Bundesregierung lautet „Prävention in der Gesundheitspolitik“ (s.o.). Bundesgesundheitsminister Seehofer erläutert zur ‘Gesundheitsförderung’ auf der Konferenz „Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge“ (1993):
„Dahinter steht nicht nur die Erkenntnis, daß ein weit gefaßter Gesundheitsbegriff gemäß WHO dem Einzelnen mehr vom Leben geben kann, sondern auch die Erkenntnis, daß in ihm die Vermeidung der Risikofaktoren versteckt mitgeliefert wird. ... Gesundheitsförderung ist zu Teilen das Positiv eines Risikofaktorenkonzepts. Die ... Positionen der Gesundheitsförderung und der Risikobekämpfung sind in meinen Augen letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille.“ Der Forschungsbericht „Gesundheit und Schule“ des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft spricht vom ‘Paradigmenwechsel’ von der Prävention zur Gesundheitsförderung bzw. vom Risikofaktorenmodell zum Lebensweisenkonzept.
Im Sachstandsbericht 1994 „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000“ werden zwei sich ergänzende Gesundheitsbegriffe unterschieden, denen unterschiedliche Gesundheitsziele und gesundheitspolitische Maßnahmen zugeordnet werden:
Ein weites Gesundheitsverständnis, das sich an der WHO-Strategie „Gesundheit für alle“ orientiert, zielt auf ein umfassendes Wohlbefinden von Menschen und beachtet die Bedeutung der Lebensverhältnisse (Arbeit, Wohnung, Ernährung, Bildung etc.) für die Gesundheit der Menschen. Aus ihm lassen sich folgende Gesundheitsziele ableiten:
- die Gesundheit heranwachsender Generationen fördern,
- die wirtschaftliche Sicherheit (z.B. Erwerbs- bzw. Arbeitsfähigkeit) erhalten,
- die selbständige Lebensführung alter Menschen erhalten,
- Zuwanderer integrativ gesundheitlich betreuen,
- die deutsche Einheit und die europäische Einheit im Bereich Gesundheit gestalten,
- das individuelle Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung steigern.
Die Verwirklichung von Gesundheit in diesem Sinne wird als Aufgabe der gesamten Politik betrachtet und nicht als Aufgabe des Gesundheitswesens bzw. eines Leistungsumfanges für die Krankenversicherungen.
Ein engeres Gesundheitsverständnis im Rahmen des Gesundheitswesens zielt auf eine altersgemäße körperliche und seelische Funktionalität, die Lebensqualität und Produktivität umfaßt. Die Formulierung von entsprechenden Gesundheitszielen gilt als eine wichtige Zukunftsaufgabe.
Gemäß den „Empfehlungen an die Gesundheitspolitik zur Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland“ der Konferenz „Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge“ bedarf es der Klärung und Diskussion darüber,
„welche Bedeutung körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden, Befindlichkeitsstörungen, Krankheiten und Behinderungen für die verschiedenen Lebensphasen von Menschen in unserer Gesellschaft haben. Als Folge des sozialen Wandels haben große Veränderungen in den Lebensstilen stattgefunden, weshalb die Frage nach der persönlichen Verantwortung und kollektiven Mitverantwortung für Gesundheit, die Behandlung von Krankheiten und die Rehabilitation von Kranken und Behinderten neu diskutiert werden sollte. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den Sinnfragen im Zusammenhang mit Krankheiten, Sterben und Tod.“
In der Praxis der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention gibt es seit 1989 ein deutliches Engagement der Krankenkassen. Im Vordergrund stehen Maßnahmen im Sinne einer auf Risikofaktoren bezogenen ‘Verhaltensprävention’. Krankenkassen verstärken jedoch allmählich auch ihre Aktivitäten im Sinne der ‘Verhältnisprävention’, vor allem im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung, u.a. in Zusammenarbeit mit den Trägern der Unfallversicherung auf der Grundlage einer gemeinsam verabschiedeten Empfehlungsvereinbarung. Die WHO-Projekte zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten „Gesunde Städte“, „Gesundheitsförderung in Schulen“ und „Gesundheitsförderung in Krankenhäusern“ werden in Deutschland durchgeführt.
Nach der Etablierung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention wird nun die Qualitätssicherung solcher Maßnahmen gesundheitspolitisch besonderes bedeutsam. Die Bundesvereinigung für Gesundheit e.V. hat im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums mit 7 Spitzenverbänden der Krankenkassen einen Vertrag geschlossen, um Standards für die Qualitätssicherung der Gesundheitsförderung zu entwerfen.
Aus-, Weiter- und Fortbildung sind wichtige Aufgaben: „In der Aus-, Weiter- und Fortbildung der relevanten Berufsgruppen, wie z.B. Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Ökotrophologen, Soziologen, Sozialarbeiter, Vertreter der medizinischen Assistenzberufe, ist die Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung zu verstärken. Gerade die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen erfordern neue Denk- und Handlungsweisen der Heilberufe mit einer stärkeren Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die Förderung von Gesundheit über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinaus.“ stellt das BfGe-Votum fest und weiter:
„Um Aktivitäten und Maßnahmen der Gesundheitsförderung anzuregen und durchzuführen, ist eine breit angelegte, kontinuierliche, praxisorientierte Fortbildung erforderlich. Diese sollte möglichst regional angebunden werden. Zu den besonderen Lernzielen der Fortbildung für die in der Gesundheitsförderung Tätigen gehören Training und Ausbau persönlicher Fähigkeiten wie Kompetenz in Gesprächsführung und Motivationsförderung. Dem Erkennen der wichtigen Zusammenhänge von psychischen, sozialen und körperlichen Faktoren für die Gesundheit ist besonderer Stellenwert einzuräumen. Die Fachkräfte, die mit den Menschen in den verschiedenen Lebensphasen und Lebenslagen besonderen Kontakt haben, brauchen spezifische Fortbildungsinhalte.“
Die Gesundheitswissenschaften werden durch die von der Bundesregierung geförderten 5 Forschungsverbünde „Public Health“ unterstützt und sollen weiter ausgebaut und strukturell verankert werden.
Kooperation und Koordination für die Gesundheitsförderung und Prävention sind besonders wichtige Zukunftsaufgaben für die Gesundheitspolitik, und zwar die interdisziplinäre Kooperation der Gesundheitswissenschaften und Gesundheitsberufe, die Kooperation vieler Organisationen und Verbände für die Gesundheitsförderung sowie die netzwerkartige Koordination der Kooperationen. Das BfGe-Votum schlägt folgende Koordinatoren vor: auf Bundesebene die Bundesvereinigung für Gesundheit und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, auf Landesebene die Landesverbände für Gesundheitsförderung und auf Gemeindeebene der Öffentliche Gesundheitsdienst (Gesundheitsamt) mit der Aufgabe, alle Beteiligten (öffentliche Einrichtungen, private Verbände und Einzelpersonen) in regionalen Gesundheitskonferenzen zusammenzubringen.
Literatur
Buchholz, E.H. (Hrsg.) (1988). Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Springer.
Bundesärztekammer (1994). Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft. Köln.
Bundesministerium für Gesundheit (1993). Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge - Informationsschrift. Gamburg: G.Conrad.
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (1993). Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge - Kongreßbericht. Gamburg: G.Conrad.
Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft / Brößkamp, U. (1994). Gesundheit und Schule. Beitrag zu einer neuen Perspektive der Gesundheitsförderung. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft - Referat Öffentlichkeitsarbeit.
Bundesvereinigung für Gesundheit e.V. (1994). Votum der Bundesvereinigung für Gesundheit e.V. für eine Politik der Gesundheitsförderung in Deutschland. Fortschreibung (Entwurf vom 22.05.94). Bonn.
Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/8238 (1994). Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Kirschner, Karl Hermann Haack (Extertal), Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD „Prävention in der Gesundheitspolitik“. Bonn.
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1994). Sachstandsbericht 1994: Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Baden-Baden: Nomos
Verband der Angestellten-Krankenkassen (1994). Gemeinsame Empfehlungen der Ersatzkassen und ihrer Verbände - Qualitätskriterien für Gesundheitsförderungsmaßnahmen nach § 20 Abs. 3 SGB V vom 14.1.94. Siegburg.
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